Die feinen Beobachtungen des deutsch-iranischen Autoren Navid Kermani in den Regionen am Rande der Welt, in denen Ausnahmezustand herrscht, entwickeln eine stille Kraft. Sie erzeugen
mit ihrer poetischen Ruhe und Genauigkeit das Gefühl einer Begegnung mit Menschen in Kaschmir, Indien, Afghanistan, Iran, Syrien, Palästina und auf Lampedusa, dem Tor zu Europa. Sie sind Einübungen in Fernstenliebe. Die Auseinandersetzung mit Kermanis Texten in der Reihe AUSNAHMEZUSTAND beschreibt verschiedene Anordnungen zur Verständigung. Verständigung heißt, ein Gespräch führen; keines Falls geht es dabei um einen Dialog, eine Debatte oder einen politischen oder weltanschaulichen Disput.
Es ist die Welt hinter Lampedusa: der Krisengürtel, der sich von Kashmir über Pakistan und Afghanistan über Iran bis in die arabische Welt und noch an die Grenzen und Küsten Europas erstreckt. Von dieser Region berichtet Navid Kermani, von unserer unmittelbaren Nachbarschaft, so fern sie unserem medialen Bewusstsein auch erscheint. Wie von Zauberhand gelingt es ihm dabei, einzelne Schicksale und Situationen so lebendig werden zu lassen, dass schlagartig weltpolitische, ja existentielle Problemlagen deutlich werden, die uns unmittelbar berühren. Auch hinter Lampedusa liegt unsere Welt. Text C.H.Beck Verlag
Der Akt der Gastfreundschaft kann nur poetisch sein. Jacques Derrida
Wir nehmen Kermanis Geschichten zum Anlass, in der Vierten Welt einen Ort der Gastfreundschaft zu errichten. Wir betreten einen Raum, in dem wir uns als Gast und als Gastgeber begegnen. Hier
ist ein ungeschriebenes Gastrecht verbürgt. Ein Recht, von dem wir eigentlich nichts (mehr) wissen. Die Gast/Gastgeber-Verabredung wird zum theatralen Grundthema der Abende. Aber was ist das Gastfreundschaft? Was kann das sein? Jemanden zuzurufen, Fühl dich wie Zuhause… Help yourself… ist vermutlich die Annullierung der Gesetze der Gastfreundschaft. Stehen wir vor der Aufgabe, uns an die Gesetze der Gastfreundschaft zu erinnern, um sie neu zu erfinden? Wir werden unser Bestes tun und unsere Gastgeber, die Performer Anders Carlsson und Matthias Breitenbach werden an sechs Abenden auf ihre jeweiligen Gäste aus Pakistan, Afghanistan, Teheran, Syrien, Palästina und Lampedusa treffen. Und dabei insistieren sie auf die kulturelle Differenz. Es gibt nichts zu versöhnen und auch nichts zu heilen. Wir leben zusammen in einer Welt, in der die Universalität der Moderne unerbittlich weiter Wunden schlägt. Alles Traditionelle vernichtet. Es gibt kein Zurück. Wir werden den Weg weiter zu gehen haben. Wie? Darüber müssen wir uns – wie Karl Marx es formuliert, bei Strafe unseres Untergangs – verständigen.
Von und mit
Regie Dirk Cieslak | Dramaturgie/Produktion Annett Hardegen | Ausstattung primavera°maas Künstlerische Mitarbeit Luisa Grass | Video Lenny Triefenschal | Technik Miriam Akkermann
Eine VIERTE WELT Produktion.
Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds.
Drinnen und draußen
…. Der Hausherr hatte – aus einer Laune heraus – seinen Gast gewechselt. Politisch gewendet könnte man hier fragen: Muss Gastfreundschaft nicht radikal zu Ende gedacht und auf jede Unterscheidung zwischen Gästen verzichtet werden? Ist eine unbedingte Gastfreundschaft nicht die einzig mögliche Reaktion auf die Hunderttausenden von Krieg und Elend Vertriebenen, von denen Europa umgeben ist? Zynisch erscheinen auf einmal die deutschen Debatten über Flüchtlingskontingente.
TAZ ARTIKEL
Jannis Hagmann | Taz 3.11.14
Navid Kermani ist habilitierter Orientalist aus dem Iran, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Hamburger Akademie der Wissenschaften. Er hielt die Frankfurter, die Göttinger sowie die Mainzer Poetikvorlesungen und war Gastprofessor in Frankfurt sowie am Dartmouth College in den Vereinigten Staaten. Für sein akademisches und literarisches Werk erhielt Navid Kermani zahlreiche Auszeichnungen, u.a. die Buber-Rosenzweig-Medaille, den Hannah-Arendt-Preis und den Kleist-Preis.