Vierte Welt

 

HARLANS KINDER

acht tage – achtzig wahrheiten

Sonntag 02.Dezember bis Sonntag 09. Dezember 2012

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Von und mit Dirk Cieslak | Dennis Daniel | Florian Guist | Simone Haverland | Annett Hardegen Schokofeh Kamiz | Katharina Meves | Sabina Moncys | Wolfram Sander | Alexander Schröder  Mariel Jana Supka | Judith van der Werff

Wir bedanken uns bei Sieglinde Geisel, Jean-Pierre Stephan, Ilona Ziok, Matthias Dell und besondern Dank an Michael Farin.

2.12 | 17:00 – 20:00

Sonntag | Wenn die Ausnahme zur Regel wird

Öffentliche Einfühlung. Wir erklären, was, warum und wie wir die folgenden 7 Tage erleben wollen. Ein literarisches Quartett unter Frau Radisch bespricht in bester Literaturclub – Manier Thomas Harlans letztes Werk VEIT, das als Initialmoment des Projektes gelten kann, und nach einem französischen Oratorium für drei Damen singen wir uns über Adeste Fideles zur Ur- Lesung von LUX- Beschreibung eines Theaterstücks (1. Akt), ein Stück von Thomas Harlan, das erst im nächsten Jahr veröffentlicht wird. Der 2. Akt von LUX wird am Sonntag den 9.12 gelesen.

LUX: In einem von Großindustriellen inszenierten Schauprozess soll nachträglich Hitlers Leibwächter LAMPE zur Entlastung der vielen Angeklagten die alleinige Schuld an den Naziverbrechen auf sich nehmen, was im Prozessverlauf dazu führt, dass schließlich LUX, die Lieblingsleibschäferhundin Hitlers, sich als Opferlamm gebiert.

3.12 | 19:00 – 22:00

Montag | Der ökonomische Putsch

Die Wirtschaft- und Finanzkrise ist Ausgangspunkt und Hintergrund von Harlans KINDER, denn es geht um uns, die Generation, der heute Ende 30jährigen. Schuldige sind benennbar, und so etwas wie eine deutsche Kontinuität zeichnet sich ab.

Ein Spiel über das Deutsche Modell. Alle machen mit!

4.12 | 19:00 – 22:00

Dienstag | Viertes Reich

Gemeinsam mit unseren Gästen Jean-Pierre Stephan, Autor des Gesprächsbands „Thomas Harlan – Hitler war meine Mitgift“ und Ilona Ziok, Regisseurin des Films Fritz Bauer – Tod auf Raten, nähern wir uns der Frage nach Kontinuität und Konsistenz des Dritten Reichs.

Per Skype sind wir mit Oberstaatsanwalt a.D. Dietrich Kuhlbrodt verbunden und leben mit Kristina Söderbaum und „Heldenfriedhof“ emphatische Momenten nach.

5.12 | 19:00 – 22:00

Mittwoch | Vom Wundkanal zum Opfergang

Angestiftet von Slavoj Zizek, der Opfergang von Veit Harlan als einen seiner drei Lieblingsfilme bezeichnet, analysieren wir den Film gemeinsam mit dem Publikum durch die Lacan’sche Brille.

Anschließend wird live Thomas Harlans großes Filmprojekt Wundkanal übersetzt und mit sich selbst gespiegelt.

6.12 | 19:00 – 22:00

Donnerstag | Vatermord und Söhnesterben

In einem real-fiktiven Vater-Sohn-Gespräch zwischen Dirk Hanlar und Alexander Arlahn reflektieren wir unser Interesse an Harlans Biographie und befragen uns mit seinen Worten. Es wird gebeichtet.

7.12 | 19:00 – 22:00

Freitag | Rosa

Lesung von Thomas Harlans erstem Roman Rosa, den er im Alter von 71 Jahren, geschrieben hat.

ROSA: Um die Geschichte von Rosa und Josef, die in einer Höhle im Massengrab der ersten, geheimgehaltenen Vernichtungsanlage der Nazis leben, spinnt sich ein Netz aus Ermittlung, Verstrickung und Erinnerung. Eine Reise durch das Innenleben der Zeit.

8.12 | 19:00 – 22:00

Samstag | Chor der Köche

Inspiriert von einem abgebrochenen Filmprojekt Thomas Harlans kochen wir gemeinsam ein Abendmahl. Hören einen Vortrag über Sibelius und die Fuge, Lyrik und einen kleinen Exkurs über den Linguizid. Als Nachtisch servieren wir Sibelius-Pop und KZ3- Äpfel und lauschen Harlans Anklage an den Bundestag… Es kann getanzt werden.

9.12 | 19:00 – 22:00

Sonntag | So etwas ähnliches wie die Wahrheit

Wir vereinen die gewonnene Erkenntnis aus der Woche und laden ein zum gemeinsamen Gang durch das entstandene Archiv.

Es wird der zweite Akt von LUX- Beschreibung eines Theaterstücks gelesen, und wir konfrontieren uns, mit dem was bleibt.

HARLANS KINDER  

acht Tage-achtzig Wahrheiten

 

Thomas Harlan hat wie kein anderer deutscher Künstler am Trauma seiner eigenen Geschichte gearbeitet. Seine Biografie, seine Person und sein gesamtes künstlerisches Werk sind durchzogen von den Kategorien Schuld, Verantwortung, Wahrheit und Vaterliebe. Manipulation durch Kunst ist ein Grundthema seines Schaffens und verankert in der Feststellung, dass sein Vater, der Regisseur von “Jud Süß”, mit diesem Film ein Mordinstrument geschaffen, sich seiner Verantwortung aber bis zum Lebensende entzogen habe. Veit, das letzte Buch von Thomas Harlan, endet mit der Übernahme dieser Schuld durch den Sohn.

Das Projekt HARLANS KINDER nimmt die Person Thomas Harlan und sein künstlerisches Werk zum Anlass, die Verbindung von Schuld und Verantwortung außerhalb eines moralisch-pädagogischen Konzeptes zu untersuchen und auf unsere heutige Gegenwart zu übertragen. Thomas Harlan hat sich sein Leben lang als Erbe seines Vaters verstanden; die damit verbundene Frage nach Schuldtilgung bzw. nach einem Leben mit einer unverzeihlichen, verleugneten Schuld stellt HARLANS KINDER ins Zentrum der Auseinandersetzung.

Ausgangspunkt unserer Beschäftigung ist Thomas Harlans letzter Text Veit. Veit Harlan rief 1964 den verstoßenen Sohn Thomas ans Sterbebett; 46 Jahre später diktiert der schwer kranke Sohn sein Vermächtnis an den toten Vater. Ein fiktives Gespräch mit einem, der nicht mehr anwesend ist, aber niemals verschwindet. Veit ist eine letzte Anrufung, die den bis zum Tode des Sohnes dauernden Verrat am Vater als zugleich zwingend, notwendig, richtig und unaushaltbar ausspricht. Dieser Vater wird im DU heraufbeschworen. Vor dem Sterben: die letzten Worte, die letzte Möglichkeit, sich zu öffnen, ein Versuch, Wahrheit zu erzählen; das Diktat eines Vermächtnisses, großes Theater.

Das künstlerische Schaffen Thomas Harlans, das existenziell an seine Herkunft, Sozialisation und Biografie gebunden ist, erzeugt in seiner Konsequenz eine radikale Strategie für eine poltisch-künstlerische Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung. Mit Thomas Harlan als Material wollen wir diese Strategie sichtbar machen, indem wir sie in unsere Zukunft verlegen: Was bleibt, wenn alles verkauft ist? Wer wird schuld gewesen sein? Gibt es ein Verhältnis zwischen dem Erbe und den Erben der nationalsozialistischen Vergangenheit auf der einen Seite und einem zukünftigen Erbe des totalen Ausverkaufs unserer heutigen Welt auf der anderen Seite, das mit “Naturgesetzlichkeiten” der Märkte und Geldströme legitimiert (entschuldet) wird?. In welches Verhältnis setze ich mich als Künstler dazu? Was Thomas Harlan in Veit als “… etwas Ähnliches wie die Wahrheit …” beschreibt, soll auf seine theatralen Möglichkeiten untersucht und auf die ästhetisch-politische Konsequenz für uns, die Hinterbliebenen, die Erben, befragt werden. Unsere Arbeit wird zu einer Arbeit gegen ein vorschnelles Ich, gegen ein “effizientes” Fertigreden; Sprache und der Besitz von Sprache stehen auf dem Spiel (und damit die essenzielle Basis des Theaters), denn ein solches Denken wird im Sprechen ausgestellt, es folgt dem Ruf einer Sache und zelebriert nicht länger eine eigenen Haltung; Denken und Sprechen in seiner ganzen Beweglichkeit werden zum Thema: ein sprechendes Denken, das sich der Produktion von Wirklichkeit verpflichtet und doch nur in einem Kunstraum stattfinden kann.

Das Projekt sucht explizit die Verbindungen von Diskurs-Theater und Archiv; Thomas Harlan und sein Werk sind Material, Ausgangspunkt und Werkzeug, für ein theatrales Archiv von Wahrheiten. Dieses Archiv wird über den Zeitraum von acht Tagen geöffnet. Acht Tage, acht Themen, achtzig Wahrheiten werden in Form von Film, Gespräch, Lesung, Performance und Gästen präsentiert. Ausschnitte aus Harlans Werk fungieren wie Darsteller, die in diesem Raum der Dokumente und Fragmente als Dokument, als Zeuge und Zeugnis auftreten.

 

Warum Harlan?

 

Am Anfang hieß das Projekt “Zwei Mal sterben”. Ausgangspunkt war der letzte Roman Text von Thomas Harlan VEIT. Ich hatte den Text gelesen und war sofort überzeugt:, Das ist ein idealer Monolog, ich hatte dafür auch sofort schon zwei Schauspielerinnen im Auge und wir haben gesprochen. Das leidige Thema Geld, also habe ich einen Antrag geschrieben. Aber davor – und ich hatte noch nie etwas von Thomas Harlan gehört – habe ich ein wenig recherchiert. Schnell kommt man auf die Geschichte mit seinem Vater und “Jud Süß”. Thomas, der die Kinos ansteckt, in denen die Filme seines Vaters gezeigt werden. Die Geschichte und Geschichten um und mit Thomas Harlan haben mich fasziniert und infiziert. VEIT geriet dabei immer mehr in den Hintergrund. Vielmehr interessierten mich, die von Thomas Harlan entworfenen Konstruktionen über Wirklichkeit und Kunst. Aber vor allem, sein Engagement, das bis zu seinem Tode anhielt. Genau hier habe ich mit Harlan und seinen Werken einen Ansatz, einen Hebel gefunden, um mich selbst zu verorten. Thomas Harlan hat seine Geschichte: glückliche Kindheit im Nazideutschland, böses Erwachen nach dem Ende des  Zweiten Weltkrieges. Er  hat die Verbrechen thematisiert und gegen deren Verdrängung angekämpft, und damit hat er Unglaubliches geleistet, so sagen manche, und ich schlage mich vollständig auf ihre Seite;, Unglaubliches auch in seinem Werk, den Filmen und der Prosa.

Im Verlauf meiner Beschäftigung und nachdem ich feststellen musste, dass VEIT ein unberührbarer Text ist, weil bereits von einem großen Theater gesperrt und eine szenische Aufführung damit unmöglich ist, habe ich mich entschlossen, eine Veranstaltungsreihe von acht Abenden zu entwickeln, die auf der einen Seite Ausschnitte aus dem Werk von Thomas Harlan präsentiert, auf der anderen Seite aber immer uns (die Gruppe und gewissermaßen Harlans Kinder) zeigt: wWie wir damit ringen, wohin es uns treibt, was wir damit heute anfangen können. Mein Interesse ist es, in acht Tagen und acht Themenblöcken die Frage nach der Verantwortung zu stellen und Thomas Harlan zu einem Vehikel zu machen: Er gibt mir durch seine Geschichte – es geht um die nicht eingestandene Schuld seines Vaters/ der Vätergeneration im Allgemeinen im Hinblick auf das Dritte Reich –, ein Werkzeug an die Hand. Wir sind die dritte Generation und haben das Erbe abgelehnt, oder verstehen uns nicht mehr aus dieser Geschichte heraus, haben keine Verbindung dahin und dazu. Zeitzeugen, Opfer und Täter sterben. Alle landen in ders selben Erde nebeneinander. Während vor uns eine nicht enden wollende Krise liegt, eine immer wieder neu angefachte und in ihrer Unabsehbarkeit in variierenden Bildern massiv beschworene Krise, vor der wir, so scheint es mir, stehen wie damals. Unfassbar, fassungslos. Wir schauen zu, wie das, was uns angeblich wichtig ist – eine demokratische Gesellschaft – sukzessive abgebaut wird und hoffen, dass wir irgendwie nicht davon betroffen sein werden. Hier genau liegt mein Interesse an Thomas Harlan: Wie werden wir, die wir heute um die vierzig Jahre alt sind, in vierzig Jahren unseren Kindern, Enkeln gegenübertreten und uns verantworten – mit den selben Worten wie damals, wir haben es nicht (besser) gewusst, oder ich habe das alles gar nicht verstanden, alles viel zu komplex, wie soll man als Einzelner etwas tun, und, was soll man tun?

Thomas Harlan ist Anlass und Ausgangspunkt, in den acht Tagen zwischen dem 1. und 2. Advent diese Fragen zu stellen.

Ein vielleicht nicht ganz zu vernachlässigender Nebenschauplatz sind das  einjährige Jubiläum der NSU-Affäre und das wiederauflebende Interesse (auch künstlerischer Natur) an Anders Breivik. Und Thomas Harlan ist fast genau vor zwei Jahren gestorben. Grund genug für uns! Harlan für ALLE!

Eine Produktion von Vierte Welt Kollaborationen gefördert durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten und durch die Konzeptionsförderung des Fonds Darstellende Künste e.V. aus Mitteln des Bundes.

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