Diskurs | gesellschaften

 

Do. 20.11.22  |  18:00 – 22:00

Liad Kantorowicz,

Diedrich Diederichsen,

Nicolas Siepen

PROXY TALK ist eine Veranstaltungsreihe von Nicolas Siepen im Rahmen von gesellschaften 2022, in der diesmal in Gesprächen mit Diedrich Diederichsen und Liad Kantorowicz versucht wird, der gegenwärtigen politisch Weltlage in Ansätzen Sinn abzugewinnen und Interpretation anzubieten. Vor dem geschichtlichen Hintergrund des Erbes des Kalten Krieges und seiner aktuellen Wiedergänger soll zusammen versucht werden, politische Realitäten und Potenziale in Sprache zu fassen. Dazu kommt auch eine performative Dimension, die anhand von historischem und aktuellen Filmmaterial aus dem WWW an der Sichtbarkeit von im Entstehen begriffener Zukunft arbeitet. Da es immer offensichtlicher wird, dass der Faschismus in einer aktualisierten Form weltweit und in sehr verschiedenen Gesellschaften wieder sein hässliches Haupt erhebt, stellt sich die Frage, wie linke Konzepte und Praxis damit umgehen oder umgehen könnten. Die internationale Linke flirtet zwar wieder mit der Idee eines demokratischen Sozialismus und traut sich sogar an die problematische Geschichte des Kommunismus mit einer möglichen Zukunftsperspektive heran, wirkt aber angesichts des politischen Chaos und der Entschlossenheit der Rechten seltsam hilflos. Das in Brasilien der Sozialist Lula die Stichwahl mit nur 1,5 Prozent gegen den Faschisten Bolsonaro gewonnen hat und niemand genau weiß, ob die Übertragung der Macht noch sabotiert wird oder nicht, zeigt ziemlich deutlich den seidenen Faden, an dem die liberalen Demokratien gerade hängen. Nimmt man dazu noch die Klimaveränderungen als ernste Bedrohung wahr und nicht nur als ideologische Spielwiese, drängt sich auf all diesen gesellschaftlichen Ebenen einerseits ein hektischer Aktivismus auf und gleichzeitig steckt man mitten in einem politischen Prozess fest, den man nicht einfach spontan transzendieren kann, sondern zunächst der Orientierung willen interpretieren muss.

Die Teilnehmerinnen und das Publikum sind eingeladen sich an diesem diagnostischen Prozess zu beteiligen.

 

Diedrich Diederichsen hat sich seit den Achtziger Jahren in zahllosen Artikeln, Vorträgen und einer Reihe von Büchern, Veranstaltungen und Ausstellungen um eine begriffliche Arbeit verdient gemacht, die scheinbar unermüdlich in kulturellen Artikulationen seiner Zeit und der Vergangenheit Spuren einer möglichen politischen Theorie für die Gegenwart versammelt hat, die gleichzeitig sowohl zu den affirmativen als auch kulturpessimistischen linken Theorien einen kritisch-dialektischen Abstand hält. In einer schon fast unheimlichen Materialfülle und konzeptuellen Detailarbeit an der Geschichte und Gegenwart subkultureller, künstlerischer, kulturindustrieller und soziopolitischer Wirklichkeiten, scheinen in dem Gewimmel der Singularitäten immer wieder die großen Linien einer politischen Theorie auf, die ich gerne mit Diedrich anhand einiger Seiten seines Buches Über Pop-Musik und anderen Materialien in groben Zügen nachzeichnen würde. Das Gespräch findet auf deutsch statt, kann aber auch englisch diskutiert werden.

„Doch die linksradikalen Utopismen uncl Epiphanien, auf denen Pop-Musik in ihrer Phase nach Punk beharrte, unterscheiden sich von den Ereignissen und Wahrheiten der heute beliebten neo-kommunistischen Wahrheitsphilosophen doch darin, dass die Pop-Musik immer annahm, die neue Welt würde aus dem Material der alten gemacht sein. In ihrem Zentrum stand der durchaus sentimentale oder auch euphorische Standpunkt einer Zeitlichkeit, die immer von Verfall und Aufbruch umstellt war und sich mit dem behalf, was zur Hand war. Der priesterliche Ton, die politische Metaphysik, in der die anti-relativistische, anti-postmoderne Position gepredigt wird, ist ihr zutiefst fremd, ist ihr Projekt doch der Immanenz der Welt, ihrer Dichte und den profanen Erleuchtungen zugewandt.“ – Diedrich Diederichsen, Über Pop-Musik

 

Liad Kantorowicz ist Künstler und Musikerin mit einem besonders ausgeprägten aktivistischen Drive, der auch vor Gefahren für Leib und Leben nicht zurückschreckt. Ihr radikaler, queerer politischer Aktivismus drückt sich einerseits in ihren Performances, Musik und Videos aus, drängt aber auch auf die Straße und hat den Geschmack von Graswurzeln. Das besondere ist jedoch, dass sie darüber hinaus ihren Aktivismus und das daraus abgeleitete politischen Denken selber verkörpert und in einen sehr eigen unverwechselbaren Stil verwandet hat. Auch hier finden sich die verallgemeinerbaren politischen Ideen und Ansätze in sehr konkreten und angewandten Artikulationen wieder, die sich weigern, in einen reinen liberalen Universalismus überführt zu werden oder einfach ein politischer Stellvertreter zu sein. Ich habe mit Liad bereits zwei Musik Videos unter ihrer Regie geschnitten und habe für PROXY / FLESHION ein Video für den Song״Monsters Against the Right״ produziert, das zum ersten mal in einem Preview gezeigt wird und als Ausgangslage unseres Gespräches dienen wird. Das Gespräch findet auf englisch statt, kann aber auch deutsch diskutiert werden. Am 25.11.22 ist dann der offizielle online Release der Single und des Videos.

“In ihrer dritten Single “Monsters Against the Right” untersucht Liadland alias Liad Hussein Kantorowicz den Körper als ultimative Zurschaustellung des Andersseins und als Ausgangspunkt für einen gemeinsamen Kampf. Die internationale Machtkonsolidierung der Rechten hat in den letzten Jahren unaufhaltsam an Macht gewonnen. Zu ihren bevorzugten Taktiken gehört die Dämonisierung der “Anderen” als Mittel zur Festigung der eigenen Marke: Muslime, Queers, Bpocs, Migranten, Trans* und andere geschlechtliche Minderheiten, ältere Menschen, Behinderte – werden zum Gegenstand von Hetze, Gesetzgebung, Politik und Verleumdungskampagnen, deren Hauptziel die Stärkung der Rechten ist. “Monsters Against the Right” ist ein Beat-pumpender Aufruf zum Handeln für uns, die Dämonisierten und “Andersartigen”. Unsere Körper sind die Ressource, die die Rechte benutzt, um uns zu diskriminieren, auszugrenzen, unsichtbar zu machen, abzuwerten, zum Schweigen zu bringen und zu verletzen. Es ist an der Zeit, unsere Körper in einem intersektionellen Kampf zu konsolidieren und in eine feierliche monströse Kraft zu verwandeln.” – Liad Kantorowicz, Monsters Against the Right

 

PROXY / FLESHION wurde von Thelma Bonavita und Nicolas Siepen im Rahmen von gesellschaften 2022 entwickelt und wird vom Hauptstadtkulturfonds (HKF) gefördert.

 

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PROXY TALK is a series of events by Nicolas Siepen within the frame of gesellschaften 2022, in which this time in conversations with Diedrich Diederichsen and Liad Kantorowicz we will try to make sense of the current political world situation and offer interpretation. Against the historical background of the legacy of the Cold War and its current predecessors, an attempt will be made to capture political realities and potentials in language. In addition, there will be a performative dimension, using historical and current footage from the WWW to work on the visibility of futures in the making. As it becomes increasingly obvious that fascism is rearing its ugly head in an updated form around the world, and in very different societies, the question arises of how leftist concepts and practice deal or could deal with this. The international left, while flirting again with the idea of democratic socialism and even daring to approach the problematic history of communism with a possible future perspective, seems strangely helpless in the face of political chaos and the determination of the right. The fact that in Brazil the socialist Lula won the runoff election with only 1.5 percent against the fascist Bolsonaro, and no one knows for sure whether the transfer of power will still be sabotaged or not, shows quite clearly the thread by which the liberal democracies are hanging right now. If, in addition, climate change is perceived as a serious threat and not just as an ideological playground, hectic activism is imposing itself on all these social levels on the one hand, and at the same time we are stuck in the middle of a political process that cannot simply be transcended spontaneously, but must first be interpreted for the sake of orientation.

The participants and the audience are invited to participate in this diagnostic process.

 

In countless articles, lectures, and a series of books, events, and exhibitions since the 1980s, Diedrich Diederichsen has rendered outstanding service to a conceptual work that has seemingly tirelessly gathered traces of a possible political theory for the present in cultural articulations of his time and the past, while at the same time maintaining a critical-dialectical distance from both affirmative and culturally pessimistic leftist theories. In an almost uncanny abundance of material and conceptual detail work on the history and present of subcultural, artistic, culture-industrial and socio-political realities, the broad lines of a political theory shine out again and again in the teeming mass of singularities, which I would like to trace with Diedrich in broad outlines on the basis of a few pages of his book “Über Pop-Musik” and other materials. The conversation will take place in German, but can also be discussed in English.

“But the radical left utopianisms and epiphanies that pop music insisted on in its post-punk phase differ from the events and truths of today’s popular neo-communist philosophers of truth in that pop music always assumed that the new world would be made from the material of the old. At its center was the thoroughly sentimental or even euphoric point of view of a temporality that was always surrounded by decay and departure and made do with what was at hand. The priestly tone, the political metaphysics, in which the anti-relativistic, anti-postmodern position is preached, is profoundly alien to her, for her project is turned toward the immanence of the world, its density and profane illuminations.” – Diedrich Diederichsen, On Pop

 

Liad Kantorowicz is an artist and musician with a particularly strong activist drive, who does not shy away from danger to life and limb. Her radical, queer political activism is expressed on the one hand in her performances, music and videos, but also pushes into the streets and has the flavor of grassroots. What is special, however, is that beyond that, she has embodied her activism and the political thinking derived from it herself, and turned it into a very own distinctive style. Again, the generalizable political ideas and approaches are found in very concrete and applied articulations that refuse to be transposed into a pure liberal universalism, or to be simply a political proxy. I have already edited two music videos with Liad under her direction and have produced a video for PROXY / FLESHION for the song  “Monsters Against the Right” which will be previewed for the first time and will serve as the starting point of our conversation. The conversation will take place in English but can also be discussed in German. On 25.11.22 is then the official online release, the single and the video.

“In her third single “Monsters Against the Right” Liadland aka Liad Hussein Kantorowicz examines the body as an ultimate display of otherness and a starting point for a joint struggle. The international consolidation of power amongst the Right is gaining more and more power in recent years without letting up. Among its favorite tactics is the demonization of the ‘othered’ as means of solidifying its own brand: Muslims, queers, bpocs, migrants, trans* & other gender minorities, the elderly, the disabled – become subjects to incitement, legislation, policies, smear campaigns whose main goal is strengthening the Right. “Monsters Against the Right” is a beat-pumping bootilicious call to action for us the demonized and ‘othered’. Our bodies is the resource the right uses to discriminate, exclude, invisibilize, devalue, silence andviolate us. It’s time to consolidate our bodies into an intersectional struggle and transform into a celebratory monstrous force.” – Liad Kantorowicz, Monsters Against the Right

 

PROXY / FLESHION was developed by Thelma Bonavita and Nicolas Siepen within the framework of gesellschaften 2022 and funded by Hauptstadtkulturfonds (HKF).

Die Veranstaltung wird gefördert vom Hauptstadtkulturfonds der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

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