Flugblätter und Vermischtes über die Vierte Welt

 
WIR WAREN DIE VORREITER DES NEOLIBERALISMUS

Gespräch mit Dirk Cieslak | Nina Peters | transcript verlag

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Interessieren Sie sich für Kulturpolitik?

Grundsätzlich ja. Mein Problem ist dabei nur, dazu eine Position zu entwickeln. Bei Kultur, wenn wir jetzt einmal so etwas wie Sport außen vor lassen, interessiert mich so etwas wie ein erzieherischer Ansatz. Ich bin überzeugt, da muss man ganz viel tun … (lacht) Wenn in der Schule und im Kindergarten die Traditionszusammenhänge immer mehr schwinden, dann muss dazu ein Gegenpol entstehen. Das republikanische Prinzip der Einheitsschule für alle unterstütze ich. Und da gibt es dann vielleicht auch Verbindungen zur eigenen Arbeit. Wir haben unsere Methode „Recherche in der Wirklichkeit“ genannt, das sind Versuche, sich mit Sozialem auseinander zu setzen. Es sichtbar zu machen und dabei auf dem Sozialen zu bestehen. Dem anderen Aspekt von Kulturpolitik, Kultur als das Identitätsmuster für Gesellschaft zu definieren, da das Nationale verschwunden ist, stehe ich misstrauisch gegenüber. Die Beschwörung der Wichtigkeit von Kultur ist eine Informationsstrategie, die dazu dient, das Reale an den Rand zu kehren.

Welches Verständnis vom Künstler haben Sie?

Theater ist ein Subventionssektor. Der Künstler bekommt Geld vom Staat, um seine Arbeit zu machen. Ich selbst frage mich immer mehr, für wen ich das mache. Man ist eingezwängt in eine bestimmte Zirkulation von Vermarktung, eines Verwertungszusammenhanges, der sich ganz explizit an bestimmte Leute richtet. Und das stimmt mich unzufrieden. Ich habe verschiedene Versuche gemacht, meine Arbeit anders zu legitimieren. Aber dafür gibt es gar kein Forum, weil es immer nur darum geht, dass alle um die Subventionen kämpfen und darum, sich in diesem zirkulären Markt zu platzieren. Der französische Philosoph Alain Badiou hat das ganz schön formuliert in dem „Dritten Versuch eines Manifests für den Affirmationismus“. Da beschreibt er das Selbstreferenzielle, das er gar nicht so sehr auf die Künstler selbst bezieht, sondern auf die Zuschauer. In selbstreferenziellen Zirkeln wird ein Zustand, eine Realität, stabil gehalten.

Wie beim Fußball.

Ich habe keine Ahnung von Fußball. Aber ich kenne das selbst von mir. Verfangen zu sein in der selbstreferenziellen Zirkulation. Jetzt suche ich eher nach Alternativen, nach Verbündeten.

Wie sieht diese Alternative konkret aus? Wir sitzen in „Der Vierten Welt“, einem 2010 gegründeten Theater am Kottbusser Damm in Berlin, einem sozialen Brennpunkt, der allerdings attraktiv ist für Künstler, Studierende, Menschen mit geringen finanziellen Mitteln. Sprechen Sie hier ein anderes Publikum an, an diesem neuen Ort, als bisher?

Das hoffen wir einfach mal. Allerdings braucht das Zeit und geht nicht so einfach. Es ist ein langer Prozess. Es gibt ein Konzept von einem Ort, erste Ansätze der Umsetzung und auf der anderen Seite steht die eigene künstlerische Arbeit. Sie steht in gewissem Sinne in der Vierten Welt zur Disposition. Das Letzte, was ich gemacht habe, habe ich am Stadttheater gemacht.

Wo war das?

Das war „Hamlet“ in Magdeburg. „Hamlet“ war der Stoff, an dem ich mit Laien gearbeitet habe. Es ging um die Frage, inwieweit bin ich in der Lage, nicht nur bei den Geschichten der Laien hängen zu bleiben, sondern inwieweit kann ich mit den Laien ein Stück Weg in eine andere Richtung gehen? Wenn man biografisches Material von Laien zu einem Theaterabend komponiert, dann kann man viel über die Wirklichkeit erfahren: Das finde ich inzwischen als künstlerischen Ansatz als zu kurz gegriffen, ich glaube, man muss ganz andere Metadimensionen einführen oder diese Geschichten anders befragen. Man braucht diese andere Dimension von Utopie und Realem. Man muss in der Lage sein, diese ganzen biografischen Geschichten in einen politischen und philosophischen Kontext zu stellen und zu denken. Es geht darum die latent affirmative Dimension des biografischen Materials aufzubrechen.

Wie sieht der finanzielle Rahmen dieses Raumes aus?

Wir haben 80.000 Euro jährliche Basisförderung durch den Berliner Senat. Das ist für zwei Projekte vorgesehen. Wir finanzieren den Raum zur Hälfte aus der Basisförderung, wir sparen uns Probenräume und Kosten für den Spielort. Wir investieren alle Einnahmen, die wir haben, in diesen Raum. Dieser Raum ist aus Bühnenbildmitteln gebaut. Wir haben einen super Bühnenbildner, der ein sehr guter Handwerker und Organisator ist. Das Material für den Boden haben wir zum Beispiel fast alles geschenkt bekommen.

So arbeitet man hier.

Genau. Das war der Ausschuss einer bedeutenden Berliner Kunstausstellung. (lacht) Die Bilder hingen mal auf diesem Fußboden. Wir haben 150 Euro für einen Kranwagen gezahlt, das waren die Kosten des Fußbodens. Die Beleuchtung haben wir aus Bühnenbildmitteln gekauft, damit können wir den Raum strukturieren, wir können bestimmte Lichtqualitäten herstellen. Das ist erst einmal angemessen, damit können wir sehr viel machen. Wir versuchen die Einnahmen so ökonomisch wie möglich einzusetzen. Die andere Hälfte dessen, was wir brauchen, müssen wir durch geförderte Projekte einspielen. Das heißt, dass Künstler hier ihre geförderten Projekte zeigen, bei einer Einnahmen-beteiligung von 60 zu 40. 40 Prozent erhalten wir. Wir haben Getränkeverkauf usw. So kommen wir fürs Erste über die Runden, können den Raum bezahlen und die Nebenkosten. Wir haben hier niemanden beschäftigt. Das machen wir jetzt erst einmal für drei Jahre.

Sie sind seit 1993 in Berlin, damals war die Arbeitssituation für darstellende Künstler sehr anders, richtig?

Ich bin ja Quereinsteiger. Theater hat mich immer interessiert, ich bin aber eher zufällig zum Theater gekommen. Dabei hatte ich großes Glück, von Anfang an mit Profis arbeiten zu können. Ohne je hospitiert zu haben oder eine Assistenz gemacht zu haben, habe ich als Regisseur angefangen zu arbeiten. Die erste Arbeit, 1989 wurde gleich von Hannah Hurtzig nach Kampnagel eingeladen.

Das war schon eine Berliner Produktion?

Nein, das war noch eine Bremer Produktion. Damals haben wir die von uns selbst getragenen Produktionskosten mit den Vorstellungen wieder reingeholt. Das waren damals rund 2000 Mark. Es war eben noch eine Zeit, in der es andere Spielräume gab.

Was heißt das?

Armin Dallapiccola, mit dem ich gearbeitet habe, hatte einen Vertrag beim Stadttheater, der auslief. Er hatte das Stadttheater satt und wollte etwas Eigenes machen. Also beschloss er, freier Schauspieler zu werden und hat sich mit mir zusammengeschlossen, um Theater zu machen. Das war damals eine Entscheidung, die man offensichtlich einfach treffen konnte. Man hatte nicht mehr Geld, aber das Leben hat weniger gekostet. Es gab mehr Nischen, Zwischenräume, in denen man sich arrangieren konnte. Man hat einfach in einer Kneipe gearbeitet und konnte davon seine Miete bezahlen.

Und hat das etwas mit dem Alter zu tun?

Ich glaube nicht. Es war einfacher, einen Job zu finden und irgendwie sein Auskommen zu sichern. Das war überhaupt kein Thema. Unsere zweite Arbeit war dann so erfolgreich, dass uns 1990 der neue Leiter von Kampnagel, Hans Man in ’t Veld, gleich koproduzieren wollte, was er auch drei Jahre lang gemacht hat.

Hießen Sie damals schon „Lubricat“?

Ja, mit der zweiten Arbeit haben wir uns „Lubricat“ genannt. Der Vorgang, ein Label zu gründen, war damals neu und es war ein politischer Akt in Abgrenzung zu dem gesellschaftlichen Raum der Ende der Achtzigerjahre angefüllt war mit Psychologie und ICH-Arbeit. Es war mir unangenehm, „ich“ zu sagen. Vielleicht auch, weil ich ja keine Ahnung von Theater hatte, das wäre mir anmaßend vorgekommen.

Und wie ging die Finanzierung der Gruppe weiter?

Mit Res Bosshart bei Kampnagel war erst einmal Schluss. Er war angetreten mit einem Begriff vom neuen Europäischen Tanz und wir fanden das damals schon „Eurokitsch“. Wir haben das als eine unglaubliche Negierung empfunden, als Europaeinheitswahre. Wir hatten nie eine Auseinandersetzung mit Bosshart, aber es war klar, das passt nicht zusammen. Und dann hatten wir wieder großes Glück. AIDS war damals ein großes Thema. Ein guter Freund von Armin und mir, Uwe Wenzel, ein Tänzer, war gestorben. Wir wollten etwas dazu machen. Es war ein ganz einfaches Konzept mit einem Sänger, einem Tänzer, Musik und Interviews mit der Mutter des gestorbenen Freundes. Das waren ein ganz schlichter Text und ein abstraktes Tableau, das eine extrem hohe emotionale Kraft entfaltet hat. Es gab damals ein Lifestyle-Magazin, das einen Aidsfonds hatte, „Max“. Und dieser „Max“-Fonds fand uns ganz gut und hat uns einfach das ganze Geld, das in dem Fonds für Kultur vorgesehen war, gegeben. Da hatten wir plötzlich 40.000 Mark, das war damals viel Geld. Und dann gab es den Weltaids-Kongress in Berlin, dort haben wir es gezeigt. Es war damals das Aidsstück und extrem erfolgreich. Und das war unser Einstieg in Berlin. Damit hatten wir gute Karten, hatten einen Namen, mit dem uns die Türen zu den Off- Theatern offen standen, ob das nun das Theater zum Westlichen Stadthirschen war oder auch das Tacheles.

Das leitete damals Jochen Sandig, der mit Ihnen die Sophiensaele begründet hat und später, 2006, dann das Radialsystem in Berlin.

Konzeptionell waren das Zebu Kluth und ich, die die Idee Sophiensaele formuliert haben, und Jochen Sandig war der Macher, der Beziehung hatte zur Wohnungsbaugesellschaft Mitte. Er hat die Sophiensaele an Land gezogen. Das war damals noch möglich in Berlin, das waren die letzten Zuckungen der Wende-Gründungseuphorie.

Was genau war möglich? Denn hier in Berlin-Kreuzberg ist doch auch gerade wieder etwas möglich.

Es war 1996 noch möglich, ein Objekt dieser Größe in Berlin-Mitte ohne kommerzielles Konzept zu bekommen. Es gab einen anderen Geist, die Stadtbaurätin hat es unterstützt, die Dame von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte war damals im Grunde eine Aktivistin, die das Tacheles ermöglicht hat. Und auf der anderen Seite war ein Spieler wie Jochen Sandig. Und dann gab es Sasha Waltz im Hintergrund, die mit „Allee der Kosmonauten“ ein extrem erfolgreiches Stück produziert hat. Es gab eine Basisförderung durch den Berliner Senat. Ohne den künstlerischen Erfolg von Sasha Waltz wären auch die Sophiensaele nicht möglich gewesen. Alle anderen haben Jahre gestrampelt, um den Laden überhaupt zum Laufen zu bringen.

Sie hatte es geschafft, dass man in Sophiensaele ging.

Ja, man ist zu Sasha Waltz gegangen. Alles andere war langer, zäher Kampf um die Aufmerksamkeit. Das ist die Zeit, in der sich das neue Freie Theater und vor allem der Tanz überhaupt erst etabliert hat.

Die Sophiensaele sind eine Zäsur in der Geschichte der Freien Szene, die Szene hat sich seit dieser Gründung zunehmend professionalisiert. Für die Arbeitssituation der freien Theaterkünstler in Berlin hat sich die Arbeitsweise insofern verändert, als sich neben dem Stadttheatersystem ein freier Markt entwickelt hat mit koproduzierenden freien Spielstätten in anderen Städten in Deutschland, Österreich, der Schweiz. Können Sie dazu etwas sagen? Was hat die Zäsur bedeutet? Und wie haben Sie damals gearbeitet im Gegensatz zu heute?

Was stattgefunden hat, ist die Ablösung vom Off-Theater. Das Off-Theater mochten wir nicht mehr, soviel war klar. Das war muffig geworden und hatte seine emanzipatorische Kraft verloren. 1989 war eine Leerstelle entstanden, keiner von uns hatte eine Vision. Aber alles stand unter dem Stern „anders produzieren“, freier produzieren, projektbezogen zusammen kommen, niemand richtet sich fest ein. Das war auch Jochen Sandig immer wichtig, „niemand ist hier für ewig“. Den Satz würde ich zumindest unterschreiben. Wir waren alle getragen von einer neuen Freiheit. Das war das Neue an der Projektidee. Das war eine liberale Idee, wir waren letztendlich die Vorreiter des Neoliberalismus. Das heißt, nicht Professionalisierung war das große Wort, sondern Projekt. Die Professionalisierung hat sich in diesem Zuge mit entwickelt. Es gab viele Diskussionen über eine neue Förderstruktur. Wir haben damals große Papiere dazu formuliert.

Und was hat sich kulturpolitisch verändert?

Letztlich gab es mehr Geld. Ich kann nicht sagen, ob das auf uns zurückgeht. Aber Sasha Waltz etwa war extrem erfolgreich. Und es war klar, aus diesem Bereich kommen neue Leute. Da entsteht was. Der Tanz war extrem erfolgreich. Der Tanz hat sich da viel stärker profiliert als das Sprechtheater.

Weil sie teilweise aus den Stadttheatern rausgeschmissen wurden und frei produzieren mussten, oder?

Genau. Letztendlich war es ein schleichender Wandel. Es gab mehr Geld, die Idee des freien Produzenten wurde stark. So sind dann später Kuratoren auf der Bildfläche erschienen … (lacht) Wir hatten die Idee von Produzentenbüros, die stark inspiriert war von dem holländischen Modell. Das hat sich dann nicht durchgesetzt. Dann gab es die Kulturstiftung des Bundes und noch mehr Geld. Und so hat sich nach und nach ein Markt entwickelt. Die Szene hat sich transformiert in einen Markt. Die Sophiensaele sind ein Name geworden, das HAU von Matthias Lilienthal ist ein Name geworden. Und es ist ein unglaublicher Beschleunigungsapparat entstanden.

Was heißt das konkret für einen Künstler wie Sie?

Für uns bedeutet das, wir produzieren viel mehr. Wir spielen viel weniger. Die ganze Aufmerksamkeitsökonomie ist gerichtet auf das Neue, es ist schwer, sich dagegen durchzusetzen.

Kulturpolitisch könnte man allerdings einer Beschleunigung der Freien Szene entgegenwirken und speziell die Wiederaufnahme von freien Einzelprojekten fördern, wie das bereits getan wird. Ist das sinnvoll?

Ja, wir haben das ja auch gemacht. Und das hat auch, was den Publikumszuspruch angeht, gut funktioniert.

Wäre eine Konzentration auf Wiederaufnahmeförderung in der Freien Szene sinnvoll? Damit sich auch hier, wie im Stadttheater, so etwas wie ein Repertoire bilden könnte.

Ja, auf jeden Fall. Unser Ziel hier in der „Vierten Welt“ ist es ja, ein Repertoire aufzubauen. „Kommunisten“ wurde wieder aufgenommen, das hatte eine Förderung vom Hauptstadtkulturfonds, „Wunderblock“ wurde wieder aufgenommen. Die Frage, die wir uns mit der „Vierten Welt“ stellen ist, wie Räume aussehen müssen, die sich den Wirkkräften der Verwertungs-mechanismen des Marktes entziehen? Das ist sicher eine Frage der alltäglichen Praxis und des Denkens in den Räumen in denen Kunst, Theater produziert wird. Das heißt, man muss die Arbeiten der Künstler an so einem Ort zusammen denken. In eine Beziehung setzen. Verbindungen herstellen und daraus ein Programm erarbeiten das seine eigene, man könnte sagen, innere Kohärenz entwickelt.

Welche weitere Empfehlung für die öffentliche Theaterförderung haben Sie noch?

Es könnte einfach 10.000 Projekte geben, bei denen man dann nur dreimal spielt. Projekte, die genau so gedacht sind: als ein Ausprobieren. Dann kann man immer noch sehen, was daraus entsteht, vielleicht ja auch etwas Größeres. Aber erst einmal kann es auch die kleinere Form als Experiment und Werkstatt geben.

Beim Berliner Senat gibt es eine Einzelprojektförderung. Was kommt für einen Regisseur ganz konkret eigentlich dabei rum, wenn eine Einzelförderung bewilligt wird?

Für mich sind das im Moment 5000 Euro. Was natürlich viel zu wenig ist.

Derzeit arbeitet der Berliner Landesverband Freie Theaterschaffende (LAFT) e.V. daran, eine Honoraruntergrenze einzufordern. Was halten Sie davon?

Ja, unbedingt! Es muss aber eingebettet sein in eine Gesamtidee. Und diese zu formulieren, ist das Problem. Ich glaube, man muss diesen Markt entschleunigen.

Wie?

Die Frage bleibt am Ende immer, wie das Geld verteilt wird. Welchen Anteil an der Kulturförderung bekommen die sogenannten Freien und wie viel die Institutionen, sprich Häuser? Man muss fundamental andere Bedingungen schaffen, glaube ich. Es ist heute viel hierarchisierter als früher.

Was heißt das?

Das hat sehr viele Aspekte. Zum Beispiel stehen heute alle unter dem Zwang, immer ein Projekt machen zu müssen und das in einer bestimmten Größen-ordnung. Sonst ist man nichts. Wir haben damals etwa aus der Not heraus, ein Afrika-Projekt gemacht. Wir hatten nur wenig Geld, 7000 Mark. Dann haben wir das auf dem Flur gemacht, mit 30 Leuten. Und die Bedingungen waren dem Projekt angemessen. Ich will das nicht idealisieren und auch nicht für schlechte Bezahlung argumentieren. Ich möchte sagen, man kann mit wenigen Mitteln gute Arbeit machen. Und das muss man sich trauen. Heute muss man ins HAU gehen, und dann muss man diese und jene Technik haben. Oder arme Orte müssen so tun, als wären sie ein richtiges professionelles Theater. Die Relationen stimmen oft nicht mehr. Die Marktgesetze sind heute so stark, dass beständig gewisse Dinge behauptet oder gegen jede reale Situation fantasiert werden müssen. Das ist ein grandioser Betrieb geworden und alle stehen unter einem extremen Druck und sind überarbeitet. Ich finde das Ganze ziemlich uninteressant. Berlin ist ein Magnet geworden. Aber ob das der Arbeit gut tut, das möchte ich bezweifeln.

Sie wechseln zwischen freiem Arbeiten und der Arbeit an festen Häusern, warum?

Das Geld für die Miete muss bezahlt werden. Ich bin nicht so gefragt an festen Häusern, ich wollte da nie rein, habe mich aber gefreut, wenn man mich gefragt hat. Aber alle diese Stadttheater bauen ja am Rand einen ambitionierten freien Sektor auf, daran möchte ich mich nicht beteiligen.

Einen Billiglohnmarkt mit freien Künstlern?

Genau. Neulich war ich im Gespräch mit einem Intendanten, der mir für eine Stückentwicklung 5000 Euro angeboten hat. Man kann doch nicht für eine Stückentwicklung, bei der ich sechs Wochen mit den Schauspielern probe und immense Vorarbeit leisten muss, 5000 Euro geben. Er könnte mir ein Stück geben und ich probe das in zwei Wochen. Ja. Aber da stimmen doch die Relationen nicht mehr. Da verkaufe ich lieber Karten an der Schaubühne.

Sie haben ein Kind im Kita-Alter, ihre Lebensgefährtin ist freie Dramaturgin. Wie ändert sich das Leben eines Künstlers mit Kind?

Man arbeitet mehr. Man schaut, dass es irgendwie funktioniert.

Haben Sie eine Altersvorsorge?

Nein.

Der Report Darstellende Künste, der 2009 veröffentlicht wurde, hat deutlich gemacht, dass freie Künstler oft sehr gut ausgebildet sind, mehrere Sprachen sprechen. Und dass die Künstler oft keine Kinder haben. Wie könnte man dem denn familienpolitisch gegensteuern?

Ich weiß gar nicht, ob man für Künstler speziell etwas machen sollte. Ich denke, man sollte eine allgemeine Familienpolitik machen. Wovon wir betroffen sind, das betrifft ja im Endeffekt immer mehr Leute. Es geht ja ganz vielen so, deshalb glaube ich nicht an irgendwelche Sonderregelungen. Ich weiß auch gar nicht, ob man irgendwelche Sonderforderungen stellen sollte. Ich weiß, dass es so nicht weiter geht.

Inwieweit geht es so nicht weiter?

Es ist ja alles relativ, vielleicht kann man auch nicht sagen, dass es so nicht weitergeht. Denn wir selbst versuchen ein Konzept zu entwickeln, das eine Alternative sein könnte, wie es weitergeht. Meine Aufgabe als Künstler ist es ja, weiter zu gehen und weiter zu sehen. Ich kann versuchen, verschiedene Bedürfnisse zu formulieren, wobei ich weiß, dass es mir selbst schwer fällt, diese einzulösen.

Was sind das für Bedürfnisse?

Ich hätte gerne eine stärkere Form von Gemeinschaftlichkeit.

Und gibt es Strukturen, die man schaffen könnte, kulturpolitische Entscheidungen, die Künstlern zugute kämen?

Wenn jeder von uns, der da arbeitet, 1500 Euro hätte, dann hätten wir als Familie 3000 Euro und dann wäre alles gut. Jeder, der an einem Projekt arbeitet, sollte 2000 Euro verdienen, man muss sich ja noch versichern usw. Diese Zahl kann ich nennen. Aber ich fühle mich genauso betroffen wie alle anderen. Ich wohne seit zwölf Jahren in Berlin-Prenzlauer Berg. Damals war ich schon die erste Verdrängungswelle, wir haben schon einen guten Teil der alten Bewohner verdrängt. Und dann habe ich in einem anderen Sanierungsgebiet meine Endumsetzwohnung bekommen. 20 Jahre ist eine Deckelung auf der Miete und irgendwann ist die weg. Da bin ich aber genauso betroffen wie mein Nachbar, der Maurer ist. Wenn ich merke als Künstler, ich werde von jeder Seite attackiert, es wird von allen Seiten versucht, mein Leben einzuschränken, dann ist das ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Wie zeigt sich dieser Angriff?

70 Euro Mieterhöhung, das ist ganz banal. Eine bestimmte Gewissheit, dass die Dinge einfach so weitergehen und es schon funktionieren wird, ist einfach verloren gegangen.

Wann?

Wann? Das ist schleichend passiert. In den letzten zwölf Jahren. Ende der 90er Jahre habe ich für drei Jahre als fest angestellter Sozialarbeiter gearbeitet. Das war übrigens ein reines Missverständnis, dass ich diesen Job bekommen habe, weil ich ja Sozialwissenschaftler bin, das hat mit Sozialarbeit nichts zu tun. (lacht) Ich würde das heute auch wieder machen, wenn es mit der Kunst nicht funktioniert. Aber die Situation wäre dieselbe. Denn die gesamte Arbeitswelt ist so abgründig geworden. Und da möchte ich als Künstler keine Sonderrolle einnehmen. Sicher, im Detail kann man ganz viel sagen, was die Förderpolitik angeht. Da könnte einiges viel angemessener sein.

In der Jury Tanz und Theater des Berliner Senats, der ich angehöre, kommt es immer wieder zu der Diskussion: Einigt man sich auf eine Honoraruntergrenze und nimmt dafür in Kauf, dass viele Projekte, die man gerne fördern würde, nicht gefördert werden können? Im Grunde müsste man sich darauf verständigen, oder?

Ja, natürlich. Und es gibt beispielsweise so etwas wie eine Einstiegsförderung für junge Leute. Sie bekommen 5000 Euro und müssen sehen, was sie damit machen können. Das finde ich gut. Ich glaube, es braucht eine andere Begleitung von jüngeren Künstlern. Ich glaube, dass viel Erfahrung verloren geht. Vielleicht kann das LAFT so etwas erreichen.

So etwas wie einen Generationenvertrag unter Künstlern?

Ja. Manchmal denkt man, dass junge Künstler doch sehr naiv an ihre Projekte rangehen. Man fühlt sich etwas altväterlich, wenn man so etwas sagt

… nein, ich hatte das als meine letzte Frage auch so formuliert: Was würden Sie einem jungen Künstler mit auf den Weg geben, wenn er Sie darum bitten würde, ihm etwas auf den Weg zu geben? Man macht ja Erfahrungen als freier Künstler …

Er muss mindestens einen Verbündeten haben. Er muss mindestens einen haben, bei dem er das Gefühl hat, wir machen das zusammen. Das muss er mindestens haben, sonst wird das nichts.

 

Quelle:

Wolfgang Schneider (Hg.)

Künstler. Ein Report. Porträts und Gespräche zur Kulturpolitik

März 2013, 302 S., kart., 24,80 I ISBN 978-3-8376-2287-4

Reihe Kultur- und Museumsmanagement  | Ein aktuelles Bild der sozialen und wirtschaftlichen Lage von Kulturschaffenden in Deutschland: In Porträts und Gesprächen zur Kulturpolitik geben Künstler/-innen Einblicke in ihr Arbeitsleben.

www.transcript-verlag.de

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlages

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