Flugblätter und Vermischtes über die Vierte Welt

 
IN THIS WORLD YOU EITHER PASSIONATE OR CORRUPT (AT)

2013

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Unsere Recherche und Arbeit zu Pakistan war für uns eine erste Annäherung; eine Kontaktaufnahme mit dem Land, unter Vermeidung wohliger Selbstzufriedenheit und westlichem Narzismus (Demokratie + Menschenrecht), mit dem uns beständig erklärt wird, wer zu unserer Welt gehört (Demokrat) und wer Schurke (Paria) ist, wer als gescheitert (failed) anzusehen ist und damit zur anderen Welt gehört, deren armselige Bewohner an den Grenzen zu unseren Demokratien zurückzuweisen sind.

Eine postkoloniale bzw. postimperiale Kontaktaufnahme kann von uns erst einmal nur als kommunikative Praxis des Gesprächs bestimmt werden, in der wir die Anderen durch uns und uns selbst durch die Anderen kennenlernen.

So ein Gespräch setzt voraus, das wir darauf verzichten, die Embleme unserer Kultur als magischen “Knüppel aus dem Sack” tanzen zu lassen, bis die anderen ihre “Schuld”  bekennen.

  

1.2 Die Anderen | Exempel Pakistan und das Nullsummenspiel der Bilder

Pakistan ist ein 1947 gegründeter Kunst-Staat mit 180 Millionen Einwohnern. Er ist Ergebnis von tief gehenden sozialen und politischen Verwerfungen, ethnischen und religiös motivierten Konflikten, politischem Kalkül und des Zufalls im antikolonialen Kampf gegen das britischen Empire auf dem indischen Subkontinent. Es ist die einzigen Gründung eines Staates im 20. Jahrhundert, neben Israel im Namen einer Religion.

Historisch ist Pakistan erst einmal eine Idee im Geiste Europas (Nationalstaat). Die Grenzziehung ist, wie in Afrika, willkürlich durch einen Kolonialbeamten der britischen Krone vollzogen. Real besteht Pakistan aus fünf großen Nationalitäten mit eigenen Sprachen, Minderheiten anderer Volksgruppen nicht eingerechnet. Die Gründung gegen starke innere und äußere Widerstände ist eine Katastrophe, sie kostet ca. 1,5 Millionen Menschen das Leben. Machtpolitisch zusammengehalten wird das Land bisher durch das, mit massiver Militärhilfe einhergehende, strategische Bündnis mit den USA, das Pakistan in die Rolle eines Client State verweist. Dieses seit 1954 bestehende Bündnis basierte auf der geopolitischen Bedeutung des Landes im kalten Krieg und heute in der Sicherung der Energieversorgung des Westens, bzw. in der Sicherung des Nachschubs für die willigen Truppen in Afghanistan. Nach einer kurzen parlamentarisch-demokratischen Blüte des Anfangs, wurde das Land immer wieder von Militärdiktatoren beherrscht. In den USA und in Großbritannien gibt es große, sehr gut ausgebildete pakistanische Minderheiten, die einen erheblichen Geldstrom zurück nach Pakistan fließen lassen. Im Zuge des Krieges gegen den Terror und der Finanzkrise sind viele Auslandspakistanis in ihre Heimat zurückgekehrt. Mit dem Niedergang des amerikanischen Empire emanzipieren sich die pakistanischen Eliten zunehmend und suchen neue regionale Bündnisse mit der Türkei, Russland und China.

Im ländlichen Raums herrschen z.T. feudale Strukturen. Weite Teile des Landes sind vom Staat völlig vernachlässigt. Die Bevölkerung lebt in Parallelwelten, die man in historische Zeitzonen, zwischen dem 7.  und 21. Jahrhundert, einteilen könnte. Es existiert weder ein akzeptables staatliches Schulwesen noch eine gesundheitliche Grundversorgung für die Mehrheit der Bevölkerung. Es gibt separatistische Bewegungen, fundamentalistisch motivierte Radikalisierungen und einen quasi Kriegszustand mit Indien (Kashmir).

Die Sozialstruktur in den nördlichen Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan ist durch jahrelangen Krieg erodiert. Gleichzeitig lebt eine recht große, anglosächsisch orientierte Oberschicht völlig selbstverständlich und isoliert vom übrigen Pakistan im 21. Jahrhundert. Sie ist hervorragend ausgebildet und mit ihrem Business an den globalen Markt und in seine Verwertungsprozesse ein-, bzw. angebunden. Und so weiter…

Zusammenfassend kann gesagt werden, das Pakistan ein Exempel ist, für die Zonen des Krieges, Elends, Mauern und Chimären in der Welt. Es ist, die von uns aus dem angereizten Affekt heraus, als Schurke und failed abgespaltene (andere) Realität .

 

Damit kann eine zweite Voraussetzung für ein Gespräch formuliert werden. Es geht nicht darum, die Situation zu leugnen. Ganz im Gegenteil, es geht darum, auf der Situation zu bestehen und sie als eine gemeinsame anzuerkennen und sie als solche zu verhandeln. 

Tun wir dies, erscheint uns Pakistan als unsere eigene Zukunft und Gegenwart (vergl. Navid Kermani). So vermögen wir es vielleicht die Ängste und unsere rein reaktiven Handlungskonzepte zu überwinden, die sich in der vagen Befürchtung begründen, das unsere wohlige und geschützte Welt von der anderen Welt gefressen wird, wie es der Philosoph Vilem Flusser als das Schicksal unserer westlichen Kultur formuliert.

Wollen wir dieses Gespräch wirklich eröffnen, dann müssen wir uns anstrengen und Wege suchen aus dem bipolaren Nullsummen-Spiel auszusteigen, das uns ständig nur erlaubt zwischen zwei Bildern hin und her zu switchen:  Dem Bild des Armen, der in Würde arm ist und dem Bild des würdelosen Elenden. Welches der beiden Bilder, momenthaft, die Aufmerksamkeit des demokratischen Individuum gewinnt ist abhängig von seiner jeweiligen ideologischen Tagesgestimmtheit. Ist es das aufmunternde Bild des agilen Slumbewohners, der seinen Aufstieg in die Fabrik, ans Fließband meistert oder das deprimierende Bild des elenden Slumbewohner , der sich die Lunge in der Fabrik mit irgend einem giftigen Staub todbringend ruiniert hat?   

1.3 Wir | Der einstürzende Himmel der Demokratie

Keineswegs neu, aber mit der Finanzkrise ist es augenfällig geworden, das unsere, vom Volks-Souverän ausgehende parlamentarische Demokratie, kulturell und symbolisch erodiert. Der Markt entscheidet, die Politik managet die Entscheidungen, um den Status Quo der kapitalistischen Verwertung zu sichern und das Privateigentum aufrecht zu erhalten. Angesichts der Eurokrise stellt sich nun sogar die Frage der Legitimation (Verfassung) unserer politischen Regimes. Während dessen haben die alten Diktaturen ausgedient, sie zeigen sich in ihrer Abschottung gegenüber einer globalen Ökonomie als disfunktional, gleichzeitig sind Formen des autoritären Kapitalismus, im Zeichen eines nationalen konservativen Populismus auf dem Vormarsch. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden zu Naturverhältnissen erklärt. Der Kapitalismus hat sich in der Evolution durchgesetzt heißt es. Vielleicht braucht es die Demokratie, so wie wir sie kennen gar nicht mehr, nur noch die Polizei. Und je mehr die Erosion der Demokratie des Westens sichtbar wird, um so entschiedener wird nach der Polizei gerufen und werden heute bebend, wie ehemals bei den Kreuzrittern das Kreuz, die Embleme der westlichen Demokratie gegen den einstürzenden Himmel gehalten.

Wir ahnen, das wir tiefer in der Scheiße stecken als wir glauben.

Zonen wie Pakistan, sind für uns das Synonym für diesen einstürzenden Himmel in denen das Leben für uns unerträglich chaotisch, multidimensional oder willkürlich und zufällig verläuft. In denen Nichts und Alles im selben Moment möglich erscheint und Tod und Leben dicht beieinander liegen. Oder wie es einer unserer pakistanischen Interviewpartner ausdrückte: “There are no manners in this society … Du musst dich immer und in allen Bereichen des Lebens, auch in der Familie, der Situation anpassen, improvisieren und es ertragen, das Entscheidungen immer im letzten Augenblick getroffen werden, ansonsten zerbrichst du hier.”

In Pakistan entdecken wir, eines der niemals vom Stapel gelaufenen, halbfertigen, rotten Wracks der Fortschrittsmoderne nach 1945, die von der Vision getragen war, unsere Modelle des Lebens und Wirtschaftens über die ganze Welt zu verbreiten. Und wir entdecken einen zukünftigen Menschen der es gelernt hat diese Multidimensionalität zu leben, in dem er jenseits von Gut und Böse in der Lage ist beständig neue Rollen einzunehmen – das Gesicht zu wechseln.

Und da bellt auch schon wieder der pawlowsche Hund: Was für ein Scheiß Land… Wir rufen: Schnauze!

Entschuldigung!

Zurück: Für uns ergibt sich nun ein Setting für eine Versuchsanordnung zu einem Gespräch: Auf der einen Seite sitzen die Anderen, denen unser Modell lange um die Ohren geflogen ist und auf der anderen Seite wir, denen ihr Modell unter den Händen zerbröselt. 

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