Flugblätter und Vermischtes über die Vierte Welt
Aneignung Stadtraum
Bruno Flierl im Gespräch mit Vierte Welt
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Sich etwas anzueignen, zu eigen zu machen – materiell und ideell, praktisch und geistig – ist, wenn man es als einenkulturellen Akt definiert, ein kreativer und dabei immer auch ein kritischer Vorgang, mit dem nicht fortgesetzt wird was an Gewordenem schon gegeben ist, sondern es ist ein Akt der Aneignung, der seinen Gegenstand neu definiert. Die Ideologie der liberalen Demokratie lässt eine Diskussion um die Bedeutung von Besitz und den Prozess des Erwerbs außerhalb der ökonomischen Dimension kaum noch zu.
Der sowjetische Psychologe Alexei N. Leontjew hat darauf insistiert, dass es jenseits des marktwirtschaftlichen Tauschwertes (Geld) eines materiellen oder immateriellen Gegenstandes, der kulturell-gesellschaftliche Gebrauchswert einer Aneignung ins Auge gefasst werden muss, um das Reale der gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse überhaupt zu erkennen und um damit die Möglichkeiten für einen emanzipativen Raum beschreiben zu können 1).
Der Prozess der Aneignung vollzieht sich – wie Hegel und später Marx mit dem Begriff „Aufhebung“ bewusst gemacht haben – als ein von Interessen gesteuerter Vorgang der Negation der Negation des vorhandenen Alten auf dem Weg zum werdenden Neuen, als Aufheben des Alten im Neuen. Die Menschen leben in schon vorgefundenen Verhältnissen, die immer schon ein Resultat der angeeigneten und gestalteten Natur, wie auch der produzierten Gesellschaft sind. Sie leben in sozial-ökologischen, von der Gesellschaft bestimmten Beziehungen zur Natur und wie später der Begründer der kritischen Psychologie, Klaus Holzkamp, betont, in sozialräumlichen Beziehungen, im Raum ihrer Tätigkeiten, die von den gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnissen bestimmt sind.
Um sich in ihnen zu verhalten, das heißt sie zu begreifen, für die eigene Tätigkeit nutzbar zu machen, Ideen zu haben, zu verändern, zu kritisieren, zu überwinden, zu beseitigen – um also aktiv handelnd in die vorgegebenen Verhältnisse einzugreifen, können sich die Menschen natürlich nur auf ihre eigenen Fähigkeiten stützen. Diese sind vererbt,
werden aber erst in der räumlichen und sozialen Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, in denen sie leben, hervorgebracht und entwickelt. Niemand kann sich also mit den Verhältnissen herausreden aber auch nicht alles nur von seiner Begabung oder Nichtbegabung herleiten. Es geht um die aktive Aneignung der Bedingungen, in denen wir leben. Der handelnde Mensch, der eingreifen will in die Lebens-situation, in die er hineingeraten ist, ist immer auch selbst-verantwortlich, indem er wählt wie er sich darin verhält. Diese theoretische Erkenntnis ist wichtig, besteht sie doch auf die Geschichtlichkeit und die Veränderbarkeit der Welt und verweigert die Verengung der Perspektive des Lebens auf Kaufen und Verkaufen, auf die Sphäre des Tauschwerts. Auch wenn, zugegeben, aus dieser Verengung heraus zu kommen, eine sehr schwierige Aufgabe ist, in einer Zeit, in der die Logik des Handelns unserer Gesellschaft von einer Mischung aus Angst, ihrer Bewältigung (Psychose) und sachzwänglich getriebener Vernunft (neurotische Verdrängung) bestimmt wird. In der noch jeder Skandal in einem kurzen Loop emotionaler Überreizung verpufft. Und in der die kritische Aneignung das Problem hat, in sich selbst zu zirkulieren, wenn sie nicht unmittelbar in den Verwertungs-prozess des Kapitals einfließt.
Sich gestaltend-eingreifend zu verhalten ist eine Tätigkeit, die eng verknüpft ist mit dem Begriff und dem Prozess der Aneignung. Ob er will oder nicht – wie bewusst oder unbewusst auch immer – der Mensch eignet sich die Welt für sich an, indem er mit ihr umgeht, sie erkundet, sie begreift, sie kulturell deutet, mit ihr in ihren Bedeutungen lebt, die objektiv sind, aber doch immer subjektiv reflektiert werden müssen, um seine Haltung zu bestimmen. Wir können nach Marx die Aneignung, als „(…) die allgemeine Struktur der praktisch-gesellschaftlichen Lebenstätigkeit – des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, sowie der daraus resultierenden Beziehungen und Aktivitäten – begreifen, in der die Vergegenständlichung des Subjekts im Objekt und die Aneignung des Gegenstandes durch das Subjekt eine untrennbare Einheit begründen.“ 2) In diesem Sinne sollten wir die zäh an den Begriff der Aneignung geklebte merkantile Allerwelts-Logik hinter uns lassen, handelt es sich doch dabei um eine Ideologie, die sich im Gewand einer Logik unangreifbar zu machen sucht. Wir sollten Selbstvertrauen fassen auf kreative Aneignung der Welt und uns selbst. Den Blick weiten. Schauen wir auf die Stadt. Die Stadt die wir uns aneignen ist immer ein Produkt der Vergangenheit. Und diese Vergangenheit hat nur so viel Wert, wie wir sie in unserer Gegenwart zukunfsorientiert gebrauchen und verändern wollen. Besonders wenn es sich dabei um einen Funktions- und Bedeutungswandel am selben Ort handelt. Das Kottbusser Tor zum Beispiel ist somit neben vielen anderen Orten der Stadt zunächst einmal als gegenständliche, wie auch symbolische Kultur zu begreifen. Es handelt sich um ein komplexes städtebauliches Produkt mit dem unzählige Bedeutungen verknüpft sind und waren, die aber an der vergegenständlichten Realität oder der Praxis der Nutzung kaum ablesbar sind.
Ulrich Deinet, Professor für Didaktik und methodisches Handeln, weist auf die Schwierigkeiten hin, vor denen wir heute bei der Aneignung der Stadt stehen. Die Aneignung der Lebenswelt als schöpferischer Prozess der Erweiterung des eigenen Handlungsraumes, der Veränderung und Gestaltung von Räumen und Situationen ist wesentlich eingeschränkt: “Der komplexe ‘soziale’ Aneignungsprozess wird in der modernen Gesellschaft erschwert, weil sich intersubjektive Verbindlichkeiten auflösen und soziale Bedeutungsverallgemeinerungen aufgrund der Pluralisierung der Lebenswelten fragwürdig werden. Der für den Aneignungsprozess bedeutsame Gebrauchswert der Alltags-gegenstände wird immer schnelllebiger und damit auch unsicherer. Die Bedeutungen sozialer Symbole werden komplexer genauso wie die Habitualisierungen sozialer Interaktionsprozesse.“ 3)
Wer also heute mit dem Auto unterwegs ist und nur damit beschäftigt ist noch über die Ampel zu kommen ohne einen Bußgeldbescheid zu erhalten oder einen Fahrradfahrer zu überfahren, kann die Stadt als Raum nicht mehr erkennen. Wer mit Akustik auf den Ohren fast ohne Außenwahrnehmung, bei fast geschlossenen Augen mit der U-Bahn zielgerichtet von Ort zu Ort fährt, kann nicht Stadt begreifen. Sich bewusst werden, was die einzelnen Orte und ihre Verbindungen durch Wege verknüpft und dies alles in der Bewegung, auch in der Zeit und im Raum zu sehen, ist eine der Bedingungen für die Aneignung des Stadtraums.
Die VIERTE WELT KOLLABORATIONEN treten hier mit ihrem Anliegen und ihrem Programm progressiv in den Prozess der Aneignung des Stadtraums ein, denn die Aufgabe ist richtig erkannt worden: es geht darum ein Bewusstsein zu schaffen. Gerade weil wir keine Antwort darauf haben wie wir den Kapitalismus überwinden können, muss es heute darum gehen, in einen Erfahrungsaustausch zu treten. Es muss mehr und mit allen gesprochen werden über Stadt, um das Bewusstsein des bereits Gemeinsamen zu stärken und die Logiken des Marktes und der Konkurrenz zu überwinden. Die Stadt muss sich politisieren, damit jeder Kapitalbesitzer, der versucht am Immobilienmarkt einen schnellen Euro zu machen, sofort einen Mob von Mietern am Hals hat. „Ohne auf dem Boden der Geschichte zu stehen, kannst du Zukunft nicht dispositionieren. Du kannst aber auch Geschichte nicht aneignen, wenn du kein Bild von der Zukunft hast!“ 4)
1) Leontjew, A.N.: „Problem der Entwicklung des Psychischen“, Frankfurt aM.
2) frei nach Marx, Karl in: „Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Soziologie“, Dietz-Verlag.
3) http://www.sozialraum.de/deinet-aneignung-und-raum.php
4) Bruno Flierl im Gespräch