Flugblätter und Vermischtes über die Vierte Welt

 
WANDERTHEATWE DES KOMMUNISTEN. MANIFEST

Keti Chukhrov | 2012

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Vor kurzem ereilte mich die Erkenntnis, dass Kunst nicht nicht kommunistisch sein kann. Das ist keine Ideologie. Kein Dogma. Das ist Einsicht. Kunst, die es schafft Egoismus und Hochmut zu überwinden, hat kommunistisches Potential. Diese Kunst ist nicht einem bestimmten Gesellschaftskreis gewidmet, sondern allen und jedem Einzelnen. Das ist kein propagandistischer Trick. So erschafft es der Künstler: Kunst, die keine Angst vor Menschen hat. Oft läuft Kunst Gefahr, sich entweder im Volk zu verlieren oder versucht umgekehrt, künstlich populistisch zu sein. Wenn ich kommunistisch sage, meine ich eine Weltanschauung, keine Parteizugehörigkeit. Diese Weltanschauung übersteigt die Grenzen eines Staates, einer Nation, einer Klasse, einer Kunstschule, private Interessen eines konkreten Individuums und setzt das Potenzial des Kommunistischen in künstlerischer Arbeit voraus. Daß heißt: Mittels der Kunst viele zu werden, viele zu sein. Daß heißt: Im Künstler lebt eine Kraft, nicht nur ein Mensch zu sein, sondern viele. Kraft, nicht einfach das Leben an

sich, die Vielzahl an Leben zu beobachten, sondern mittels der Kunst viele zu sein oder zu werden.

Die Methode, als Künstler viele zu sein, existiert: Diese Methode ist Theater. Mit Theater meine ich eine anthropologisch-politische Herangehensweise, die aus der Fähigkeit entsteht, mittels Kunst Transformation zu verwirklichen. Der Übergang zum Theater ist, für mich, einerseits aus Poesie, anderseits aus zeitgenössischer Kunst entstanden. In der Poesie

ragt die Monologizität heraus – eine Art unvermeidlicher Akmeismus der Lyrik – eine permanente, wenn auch weltgewandte, Auseinandersetzung mit sich selbst. Zeitgenössische Kunst ist, in mancherlei Hinsicht, das Gegenteil von Poesie: weder psychologisch, noch subjektiv. Doch sie funktioniert, im Grunde genommen, nach dem Kanon der Moderne: Wirklichkeit in „sich eigene“ künstlerische Sprachen einzuschränken. Kunst ist gezwungen, in der Reproduktion eigener Sprachen, Konzepte und Kommentare stehen zu bleiben, als unendliche Wiedergabe entfernter Räumlichkeiten im Modus des optisch Bewusstlosen. Räume der Repräsentation, des Exponierens und der Interpretation von zeitgenössischer Kunst sind so eingerichtet, dass ungeachtet des Gegenstandes, die Kunst sich letztlich

mit sich selbst und den eigenen Grenzen beschäftigt. Das macht die Kunst zum statischen exponierbaren Kunst-Objekt.

Theater ist dynamisch. In seiner Im-Werden-begriffenen-Handlung wendet Theater sich an das nicht Vorhandene in der Gesellschaft, im Leben, in der Kunst. Theater verbringt nicht einfach Zeit, sondern verwirklicht sie. Theater behandelt Gegenwart als

sei sie Zukunft. Ausstellungsräume, auch wenn sie Sozial-Politisches thematisieren, bleiben an die Politik von Dingen und Räumen gebunden. Theater aber schlägt eine Politisierung der Menschen vor. Theater ist eine Erfahrung, das Dingliche hinter sich zu lassen, eine

Erfahrung des immateriellen Bewusstseins. Wenn in der Performance ihr Performer sich a priori als Schauspieler konzeptualisiert, so vollzieht sich das Schauspielerwerden im Theater dank dem Schauspieler, der zum Mensch und seinem politischen Schicksal wird: d.h. er wird zum Künstler, weil er im Spiel einen Menschen verwirklicht. Theater ist ein Raum der Menschen, kein Raum der Künstler. Theater ist fähig eine Idee auszusprechen, aufzuführen ohne auf die reine Form oder das aufgelöste Konzept zu reduzieren. Im Theater entfaltet sich eine Idee als lebendige Materie der Beziehungen im unreduzierbaren Viel–Mensch-Sein und in Vielstimmigkeit. Theater ist zweifellos öffentlich. Oft wird der Begriff des Öffentlichen jedoch mit „Publikum“ identifiziert, bzw. mit der zum Anschauen dargebotenen Handlung als Schauspiel. Das Öffentliche beinhaltet aber auch, dass Theater potenziell für alle sein

kann, dass die Welt für alle ist, über den Umgang mit der Welt, wenn sie nicht für alle ist, und den Umgang mit jenen, die aus welchem Grund auch immer ohne Welt geblieben sind. Theater baut darauf, dass es nicht mehr wartet – auf Geld, Wohlstand, Bildung, Schönheit, jedoch Warten selbst in einer Handlung auflebt. Das Politische im Theater ist weder ein Thema noch ein Problem. Das Politische ergibt sich unter Menschen, sobald diese nicht einfach Doku-Objekte oder zu betrachtende Charaktere, sondern sprechende politische Subjekte sind. Der Sinn von Dramatisierung ist, nicht eine einzige Idee, sondern viele Ideen oder viele „Menschen-Ideen“ zu repräsentieren, die sich im Konflikt treffen, so dass der Ausweg oder die Konsequenz des Konflikts im Handeln entsteht, und nicht vorweg

genommen wird. Sprechen und Sprachen im Theater sind nicht nur Klänge, Narrative und Meinungen. Es sind nicht die Interviews der Geschädigten, die darüber berichten, wie etwas oder was ihnen zuteil wurde. Theater geht anders mit Leiden um, als Neue Medien, Kunst, Literatur und Dichtung. Theater impliziert, dass die Rollen von Geschädigten oder von Unterdrückten (schreckliches, entwürdigendes Wort) selbst ausgeführt werden, als eine künstlerische Verwirklichung des eigenen Siegens über die Umstände. Hier äußert sich das politische, ästhetische und kommunistische Potential von Theater. Lernen nicht nur über sich selbst, sondern über sich selbst aus der Position des Autors, wie auch des Schauspielers zu sprechen. Von der Position vieler anderer zu sprechen, wenigstens um zu verstehen oder aufzuklären, was in unserem Land, in unserem Staat, in der Welt passiert und passiert ist. Um zu verstehen, wie wir weiter existieren können. Ich verlasse mich auf eine Präsumtion: Künstlerische Leistungen gelten nicht, geistige Suche nach Transzendenz hat keinen Wert, wenn ihre Position dadurch begründet ist, dass die größere Zahl der Menschen dieser Welt darin nicht berücksichtigt ist. Menschen, die keine Zeit, keinen Ort und keine elementare Überlebensbedingungen haben. Menschen, die keinen Raum des Seins haben, in dem der Mensch denkt, schafft, liebt, lebt. Subjektive Erhebungen gelten nicht, wenn sie nicht implizieren, dass alle Menschen, egal wer sie sind, potentiell Künstler, Wissenschaftler, Ingenieure, Philosophen, Gesprächspartner, Genossen, einfach Menschen sind: Ohne sie kann man die Fülle der Welt und des Lebens nicht erreichen. Und auch sie sind potentiell fähig so zu denken. Das ist alles. Das ist die kommunistische Präsumtion an einer Hand abgezählt. Den Kommunismus an sich gibt es nicht und gab es nicht. Es gibt das Projekt Kommunismus. Es kann ihn genau so wenig nicht geben, solange es Menschen gibt, Menschen in ihrer Vielzahl. Viele widersetzen sich dem Kommunistischen in sich selbst, in der Realität, in der Kunst, in der Geschichte. Es kommt von der Angst um sich, um das eigene Wohlergehen, um die eigene, wenn auch kleine Macht, um den eigenen Erfolg, schließlich um mühsam erworbene Bildung und Kultur. Diese Angst ist allen eigen, ohne Ausnahme. Sie ist tierisch. Sie ist überwindbar. Es ist möglich an sich selbst zu denken, wie an andere, als sei es nicht an sich selbst. Es ist schwer, aber wird leichter, wenn diese

Gedanken ihre Gestalt in der Situation künstlerischer Ausführung erlangen. Das Wandertheater des Kommunisten ist eine Möglichkeit, in gewissem Sinn zeitweilig, die Beziehungen des politischen Eros durch Mittel zu erschaffen, die jetzt verfügbar sind. Wenn auch nur zeitweilig, aber diesen künstlerischen kommunistischen Raum – trotz der Umstände – in die Existenz zu tragen. Menschen tun es bereits. Alle diejenigen, die jetzt sein wollen und

können. An einem Ort, der jetzt dafür gefunden wurde. Für all diejenigen, die bereit für Begegnungen sind. Jetzt.

Keti Chukhrov

 

Übersetzung, Bearbeitung: Vierte Welt

Original: http://trans-lit.info/5/keti.html

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