Flugblätter und Vermischtes über die Vierte Welt

 
DIE ZUKUNFT DER STADT

Navid Kermani | 2012

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Karatschi ist eine dunkle Stadt. Keine andere Zwölf- oder Vierzehn- oder Fünfzehnmillionenmetropole dürfte abends so spärlich beleuchtet sein. Die Strassenlaternen erhellen nur einzelne Viertel und manche der Hauptstrassen; in den meisten Gebieten verrichten sie ihren Dienst, wenn überhaupt sporadisch. […] Anders als in den meisten Städten des Nahen und Mittleren Ostens schließen die Geschäfte bald nach Einbruch der Dunkelheit und machen nachts selten durch Lichter auf sich aufmerksam. Wie Verheißungen wirken in dieser Dunkelheit die weißen und roten Lichter der Autos, und wie Denkmäler die grossen und kleinen Leuchttafeln, die für Motorola oder Benetton werben, Monumente einer vielleicht zukünftigen, wahrscheinlich aber früheren Zeit. […]

Die Zukunft der Stadt, so könnte sie aussehen: Der Besucher landet auf einem hochmodernen Flughafen, dessen Fangarme in blitzblanke Hallen leiten, die bis hin zum Kummerkasten und der Privatnummer des verantwortlichen Managers keinen Wunsch offenlassen; er wird hinter der Zollabfertigung von einem Chauffeur des Hotels empfangen, der ihn von anstürmenden Taxifahrern abschirmt, aber Wert darauf legt, daß die Türen und Fenster während der Fahrt verschlossen bleiben, nicht wegen der Klimaanlage,

vielmehr aus Angst vor Wegelagerern; aus dem Wagen blickt er auf die Menschen (die „Eingeborenen“ ist er versucht zu sagen, womöglich erlebt das Wort noch eine Renaissance), die durch die dunklen Straßen huschen oder sich in schäbigen Cafés – mehr Garage als Gebäude – vor dem Fernseher versammeln; er blickt auf Leuchttafeln, die nicht bloß Gulf

Air , Motorola  und Benetton  anpreisen, sondern an den denkbar kuriosesten Orten an die Imperative des modernen Menschseins mahnen: „Keep the Area green and healthy“ oder „Think Green, Act Green“; er steigt vor einem Hochhaus aus und wird von einen Portier in folkloristischer Tracht in die globale Heimat eingelassen, und an der Rezeption von warmherzig lächelnden Herren und verlockend anzuschauenden Damen begrüßt; er saust in seinen dreizehnten Stock und wird in die Normkoje geführt, die nach Gemütlichkeit

schreit. Vielleicht gibt es auch in der Zukunft noch Menschen, die aus einem nicht auszurottenden Reflex das Fenster aufstoßen wollen und es verriegelt finden, die so ignorant sind, daß sie bei der Rezeption anrufen, um von der verlockend lächelnden Stimme über die Luftverschmutzung aufgeklärt zu werden, die es leider unmöglich mache, die Fenster zu öffnen. Und wie er verwirrt auf sein ausgezeichnet gepolstertes Bett fällt, denkt der Besucher: Ja, so könnte sie aussehen die Zukunft der Stadt, so könnte New York in zwanzig oder Berlin in vierzig Jahren aussehen, so sehen Manila oder Dar-es-Salam vielleicht schon heute aus: einzelne Stätten des identisch gewordenen, allenfalls durch folkloristische Ornamente unterscheidbaren Reichtums inmitten einer Welt, die längst abgekapselt worden ist. So

abwegig diese Vision erscheint, so dürfte sie doch ealistischer sein, als jene der future points  und Weltausstellungen.

Die wirkliche Postmoderne, sie ist hier in der Nacht von Karatschi zu besichtigen, sie ereignet sich in einer Stadt, die nach dem Regen aussieht wie nach dem grossen Knall, wenn die Staaten untergegangen sind, aber die Menschen weiter existieren. Sollte die vertraute Zivilisation in diesem science fiction  vorkommen, wird sie sich in einzelne, abgeriegelte und

gut bewachte Länder, Viertel und Gebäude zurückgezogen haben. Innerhalb ihrer Mauern reduziert sich der Unterschied der Kulturen womöglich auf Details wie jenes, daß man in Minibars islamischer Länder nicht nach Whiskey Ausschau zu halten braucht oder, wie in Karatschi, auf einem Formular erklären muß, kein Muslim zu sein, bevor ihn der Zimmerservice – und nur dieser – ausschenken darf. […]

Das Aufregende an Karatschi und das Beispielhafte ist, zu beobachten, wie das Leben sich nach dem Verfall staatlicher Institutionen und Einrichtungen neu organisiert. Die Gesellschaft bricht zusammen, findet aber neue, molekulare Versorgungsstrukturen, die auf den ersten Blick bisweilen archaisch wirken (so das Heer der zivilen, mit Maschinengewehren ausgestatteten Wachleute vor Geschäften, Banken und Villen), in anderer Hinsicht jedoch durchaus zukunftsweisend sind. Das Transportwesen zum Beispiel: der gesamte öffentliche Nahverkehr wird heute von 17.000 Privatbussen bewerkstelligt. Es existieren keine Unternehmen, keine Genossenschaft, keine Aufsicht; jeder Bus gehört einem einzelnen oder oft auch drei oder vier Fahrern zusammen. Unterliegt der Nahverkehr Prinzipien, so sind es jedenfalls keine festgeschriebenen. Dieses System beschert keinen hohen Komfort, aber es ist effizient und für die Benutzer bezahlbar. Ähnlich ist es im Güterverkehr. […]  All die Lastwagen sind im Privatbesitz, vergeblich fragt man nach Firmen, Gewerkschaften

oder Monopolen: Der gesamte Güterverkehr Pakistans organisiert sich ohne Plan – aber er organisiert sich. Entsprechende Beobachtungen lassen sich in allen Bereichen machen. Das öffentliche Gesundheitswesen ist längst kollabiert, aber in den Strassen trifft man

auf fahrende Zahnärzte. Die öffentlichen Schulen stehen oft leer, […] dafür florieren selbst in den Slums die Privatschulen. Und selbst in den ärmsten Gegenden finden sich Vereine, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, die Mittellosen zu versorgen, praktisch aber einer rudimentären Bürgerselbstverwaltung gleichen und das Nötigste erledigen. Wie ein Kind ist

Karatschi, das sich selbst überlassen worden ist, sich aber weigert, deswegen zugrunden zu gehen. […]

Karatschi ist die Vision einer Welt, in der die Menschen an einem Ort und doch in streng geschiedenen Gesellschaften leben, in deren Palästen ein strikt bewachter Frieden und in deren Hütten ein täglicher Kleinkrieg herrscht, eine Welt, in der die Rolle des Staates eine andere sein wird als in unserem noch bürgerlichen oder postkolonialen Zeitalter. Ähnlich wie im vorbürgerlichen und präkolonialen Zeitalter dürfte der Staat sich mit einer Nebenrolle bescheiden. […] Der Staat existiert. Aber er funktioniert immer schlechter. Er ist ein Hindernis, das es zu überwinden gilt. […]

Am Ende kommt der Besucher doch noch ans Licht. Die Lämmer laufen zwischen den Tischen umher, die Hühner schlagen aus berechtigter Sorge mit den Flügel.

Selbst nach lokalen Standarts sieht es nicht eben sauber aus, die Schürzen der Köche sind vor Flecken dunkelbraun, und der letzte Besuch der Lebensmittelaufsicht, die nicht für Rigidität bekannt ist, dürfte ein paar Jahrzehnte zurückliegen. Der Besucher, der erst gestern in Karatschi eingetroffen ist, holt tief Luft als er Fleisch, Soße und Kräuter ins Brot wickelt, und versichert sich, in seiner Koje Immodium vorrrätig zu haben. Dann beißt er auf diesen pakistanischen Bigmac und erfährt eine solch raffiniert gewürzte, hocharomatische Offenbarung, wie sie kein blütenweisser Palastkoch bescheren könnte.

Navid Kermani

 

Navid Kermani: Schriftsteller und Orientalist | Dieser Text ist eine gekürzte Version von die ZUKUNFT DER STADT erschienen in:

 

Schöner neuer Orient. Berichte von Städten und Kriegen, München 2003.

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