gesellschaften

 Mit Sebastian Kirsch und Ulrike Haß  

So. 17.10.21 | 19:00 | Einlass 18:30

INDOOR + SREAMING

Eintritt frei | Für den Zutritt gilt die 3G-Regel 

Viele neuere Theaterformen teilen ein auffälliges Interesse an chorischen Praktiken. Diese Aktualität des Chores, der zunächst vor allem an die Tragödie und die griechische Antike denken lässt, mag auf den ersten Blick überraschen. Bei näherem Hinsehen ist sie aber keineswegs verwunderlich: Nicht nur waren Chöre historisch immer wieder verbunden mit Prozessen der „Gefügebildung“, in den überlieferten antiken Stücken begegnen sie auch als Träger von unterschiedlichstem „Umgebungswissen“, das dort im Regelfall mit kosmologischen und mythologischen Wissensformen zusammenhängt. Mit beiden Stichworten, Gefüge und Umgebung, sind aber Diskurse berührt, die Kunst und Theorie gerade heute stark umtreiben: Zu denken ist etwa an die anhaltende Konjunktur von Relationalen Modellen, die die Beziehungen in den Vordergrund stellen, in denen scheinbar geschlossene Dinge und Lebewesen stehen. Zu denken ist an ein verbreitetes Interesse an „Transversalität“, im Sinn von Übertragungsprozessen, die quer durch institutionelle Rahmungen und systematische Schließungen Ansteckungseffekte generieren (wofür allerdings auch die Pandemie ein Beispiel ist). Und zu denken ist an die heutige Bedeutung umweltbezogener Regierungsformen, die – im Verbund mit Netzwerktechnologien – Verhaltensweisen über Umgebungsvariablen zu steuern suchen (und die sogenannten „medienökologischen“ Theorien in den vergangenen Jahren großen Auftrieb gegeben haben).

Für die große Bedeutung des Chores im Gegenwartstheater scheint aber noch etwas anderes ausschlaggebend zu sein. Denn allein schon weil seine historischen Anfänge im Nebel liegen, lässt er sich nicht auf die Geschichte einer Institution „Theater“ reduzieren und weist in gewisser Weise über deren Rahmen hinaus. Gerade wegen dieses Schwellenstatus scheinen chorische Praktiken aber immer wieder in der Lage zu sein, betriebliche Selbstreferenzen aufzubrechen und disziplinär beschränkte Theaterkunst überhaupt „in die Welt“ hinein zu öffnen.

Der Theaterwissenschaftler Sebastian Kirsch geht der Geschichte des Chores im Kontext dieser Themen nach und stellt dabei die Frage, ob es eine Weise des Denkens und des Philosophierens gibt, die selbst chorisch genannt werden kann. An drei Abenden wird Kirsch, dessen Buch „Chor-Denken“ 2020 erschienen ist, gemeinsam mit drei Gästen diesen Möglichkeiten genauer nachspüren.

Veranstaltung 3: Chor und Sorge

(Sebastian Kirsch und Ulrike Haß)

Der Chor ist älter als die Tragödie und kommt von woanders her. In den überlieferten Stücken des 5. Jahrhunderts erscheint er immer wieder als Träger eines vielfältigen Umgebungswissens. Als Vielfältiges ist dieses Wissen notwendig uneinheitlich und nicht auf einen Nenner zu bringen: Es ist nicht auf ein großes (protagonistisches) Ego fokussiert, sondern bringt stattdessen die vielen, verzweigten und ihrerseits wieder in unabsehbaren Bezügen stehenden Anfänge zum Ausdruck, in denen sich Prozesse der Ich-Bildung allererst vollziehen können. Das chorische Wissen ist mithin ein Wissen der unabsehbaren umweltlichen Verflochtenheiten, ein Wissen darum, dass wir „Umwelt nicht haben, sondern Umwelt sind“ (Ulrike Haß).

Das dritte Gespräch der „Chor-Denken“-Reihe fragt nach möglichen Zusammenhängen zwischen diesem chorischen Umgebungswissen und den philosophischen Bemühungen um den Begriff der „Sorge“ (epimeleia), die im ausgehenden 5. Jahrhundert einsetzten (und die Michel Foucault zum zentralen Gegenstand seiner letzten Arbeiten machte). Unser Gespräch gilt wirklich verblüffenden Analogien zwischen Chor und Sorge: Auch in den Sorge-Philosophien der Kyniker, der Epikuräer und der Stoiker geht es immer wieder um die Einbettung des Einzelwesens in vorgängige Relationen, die häufig kosmologisch gedacht werden und die sich nicht genealogisch binden lassen. In ihren (lebens-)praktischen Übungen berufen sich Sorge-Schulen oft auf „uralte Praktiken“ (Foucault), die weit vor schriftkulturelle Überlieferungen zurückweisen – etwa auf asketische Übungen mit kathartischer Wirkung. Ähnlich wie der Chor ins Theater, geht darum auch die Sorge als weitaus älteres, disparates Element in die Philosophie ein. Und in beiden Fällen kann man beobachten, dass dieses ältere Element ab einem gewissen Zeitpunkt für ephemer gehalten wird, um dann aus expliziten Selbstbeschreibungen und Programmatiken schlicht zu verschwinden. Was lässt sich vor diesem Hintergrund über eine gemeinsame Geschichte von Chor und Sorge sagen? Und wie stellt sich diese im Licht aktueller Verwendungen des Sorge-Begriffs dar, der in seiner anglifizierten Variante als „Care“ Konjunktur hat?

Ulrike Haß lehrte bis Herbst 2016 Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und hatte Gastprofessuren u.a. in Paris und Frankfurt/M. inne. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Verhältnis von Raum, Bild und Theater (Das Drama des Sehens), zu aktuellen Kontexten von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit sowie Gegenwartsdramatik und -theater, speziell zu Elfriede Jelinek, Heiner Müller und Einar Schleef. Anfang 2021 ist ihr Buch Kraftfeld Chor erschienen.


Eine Produktion im Rahmen des Festivals 10 Jahre Vierte Welt. Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds.

 

Empfohlene Beiträge